Dehnen gilt als gesunde Trainingsmethode zur Wiedererlangung von Beweglichkeit und Entspannung. Sah man eine Zeitlang Dehnen kritisch, wird es heute fast überall empfohlen.
In der Pohltherapie empfehlen wir es bewusst nicht, raten sogar davon ab.
Physiologische Gründe: keine Dehnung ohne Anspannung
Bewegung entsteht immer durch abwechselndes Anspannen und Entspannen von mindestens zwei Gegenspielern: von Agonisten und Antagonisten. Beispiel: wenn ich den Arm beugen will, um z. B. etwas Schweres zu heben, oder auch nur eine Gabel zum Mund zu führen, muss ich den Bizeps als Agonisten anspannen, das heißt verkürzen, wobei sich gleichzeitig der Antagonist Trizeps auf der Rückseite des Oberarms verlängern muss. Wenn ich den Arm im Ellbogen strecken will, muss sich der Trizeps anspannen und der Bizeps länger werden.
Langes Dehnen kann zu Verspannungen führen
Das heißt für das aktive Dehnen: Immer, wenn ich einen Muskel aktiv dehnen will, muss ich seine(n) Antagonisten anspannen. Das gilt für alle Muskeln und geschieht normalerweise automatisch, ohne dass wir es merken. Die Dehnung ist gewöhnlich schnell vorübergehend. Aber die damit immer einhergehende Kontraktion des Gegenspielers kann leider viel länger haltbar sein!
Das heißt aber auch: Halte ich einen Muskel über längere Zeit gedehnt, muss ich den/die Gegenspieler über längere Zeit angespannt, kontrahiert, verkürzt halten. Geschieht das oft und lange, kann das zu Verspannungen/Dauerkontraktionen führen. (Kurzfristiges Dehnen und damit Anspannen der Antagonisten ist natürlich nicht schädlich, es ist mehr eine Bewegung als ein Halten).
D. h.: Nach langem, intensiven Dehnen geht zwar die Dehnung immer wieder zurück, aber die Kontraktion wird mit der Zeit unbewusst aufrechterhalten, und zwar Tag und Nacht.
Passives Dehnen (durch Einwirkung von außen durch Partner, Gewicht etc.) ist per Definition kein aktiver, vom Gehirn gesteuerter Vorgang ist (physiologisch kann sich ein Muskel nur kontrahieren und dekontrahieren). Daher ist passives Dehnen erst recht nicht lange haltbar, man muss es ständig wiederholen.
Wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Dehnen
Das Dehnen wurde inzwischen auch wissenschaftlich erforscht. Wissenschaftliche Literatur dazu finden Sie am Ende dieses Artikels aufgeführt.
Die Ergebnisse sprechen nicht fürs Dehnen. Sie lassen sich so zusammenfassen:
- Dehnen hilft nicht, um Muskelkater vorzubeugen.
- Dehnen verringert die Kraft vor dem Training.
- Dehnen bringt keine dauerhafte Herabsetzung der muskulären Spannung.
- Dehnen bringt höchstens Verspannungen.
So sehen wir das auch in der Pohltherapie.
Beispiel Psoas-Dehnen
Linker Iliopsoas
Abbildung aus dem Buch von Helga Pohl: Unerklärliche Beschwerden? Knaur VerlagWas ist der Psoas?
Der Psoas (eigentlich Iliopsoas), ist ein Muskel, der auf jeder Seite
- vorn oben am Oberschenkel ansetzt
- dann oben innen an der Beckenschaufel (Iliacus-Teil des Iliopsoas)
- dann schräg durch den Bauch verläuft (Psoas-Teil des Iliopsoas) und innen an der Wirbelsäule ansetzt.
Siehe Abbildung.
Bei den meisten Dehn- und Fitness-Übungen ist in Kurzform nur vom Psoas als Bezeichnung für den ganzen Muskel die Rede.
Was macht der Psoas?
Wofür braucht man die Psoas-Muskeln?
Der Iliopsoas verkürzt sich beim Beinheben, der Winkel wird kleiner.
Abbildung aus dem Buch von Helga Pohl: Unerklärliche Beschwerden? Knaur VerlagDer Iliopsoas ist der größte und stärkste Hüftbeuger, d. h. er verkleinert bei Anspannung (wenn er sich verkürzt) den Winkel zwischen Körper und Oberschenkel,
indem er z. B., wenn er gerade Agonist ist
- bei jedem Schritt vorwärts das Bein hebt, das Bein also dem Körper nähert (siehe Abbildung)
- bzw. beim Vorbeugen im Stehen oder Sitzen den Körper den Beinen nähert.
Wodurch können sich die Psoas-Muskeln verspannen, chronisch verkürzen?
Den Psoas verspannt man sich, wenn man in den Hüftgelenken vorgebeugt steht oder sitzt.
Welche Auswirkung haben verspannte Psoas-Muskeln?
Fehlhaltung mit verspannten Iliopsoas-MuskelEine Fehlhaltung:
- Mit chronisch verkürzten Psoas-Muskeln ist man ständig den Hüftgelenken vorgebeugt, wie in nebenstehender Abbildung.
Chronische Schmerzen:
- Bauch-Schmerzen (der Psoas liegt ja im Bauch)
- Leistenschmerzen
- Schmerzen am Oberschenkel vorn oben
- Knieschmerzen
- Fußschmerzen, vor allem in den Zehen und im vorderen Fuß (durch die Gewichtsbelastung vorn)
- Nackenschmerzen, weil man mit gebeugten Hüftgelenken eigentlich zum Boden schaut. Schon, wenn man nach vorn schaut, um z. B. mit jemandem zu sprechen, muss man in dieser Position den Kopf in den Nacken legen. Das geht nur mit angespannten Nackenmuskeln
- Schmerzen im unteren Rücken: um sich in ständig vorgebeugter Haltung aufzurichten, muss man mit Anspannung der Rückenmuskeln dagegenhalten. Es schmerzt dann der Rücken in der Taille. Auch der Hintern oben am Becken und an den ISG-Gelenken kann betroffen sein.
Bewegungseinschränkungen:
- Man kann sich in den Hüftgelenken nicht mehr ganz aufrichten
- Beim Gehen gehen die Beine nicht mehr nach hinten /dazu müssten die Psoas-Muskeln lang werden
- Dadurch, dass die Beine nicht mehr nach hinten gehen, kann man nicht richtig abrollen
- Dadurch, dass man nicht mehr richtig abrollen, sich nicht mehr nach hinten unten wegdrücken kann
werden- die Knie steif
- die Sprunggelenke steif
- die Füße steif
- und der Gang wird kleinschrittig. Man tippelt mehr als dass man geht oder läuft.
Dagegen helfen Fußbehandlungen so wenig wie Knie-Operationen.
Probieren Sie es aus, stellen Sie sich in den Hüftgelenken vorgebeugt hin und spüren Sie die Spannungen in Ihrem Körper, an den einzelnen oben beschriebenen Stellen.
Wer verspannt sich besonders häufig die Psoas-Muskeln?
- Verkäufer mit niedriger Theke wie
- Marktleute
- Apotheker
- Hausfrauen (und -männer), die an zu niedrigen Küchenmöbeln arbeiten
- alle, die vom Tisch, von der Arbeitsplatte zu weit weg sitzen
- alle, die an zu niedrigen Tischen arbeiten, essen usw.
- Rennradfahrer, Radfahrer, die beim Radfahren ihre Beine nicht durchstrecken können.
- Bäcker der alten Art (Fallbeispiel: alter Bäcker, der immer die Bleche mit den Broten unten hineinschob)
So verspannt man sich die Psoas-Muskeln
Psoas dehnen – was ist falsch daran?
Um den Hüftbeuger Psoas zu dehnen, muss man die Hüftstrecker (großer Gesäßmuskel und die Muskeln auf Rückseite der Oberschenkel) anspannen!
Probieren Sie es aus:
Psoas-Dehnen auf der Vorderseite und Hüftstrecker-Anspannen auf der Rückseite.
Wer hätte das gedacht?
Schmerzen im unteren Rücken und Gesäß können die Folge von Psoas-Dehnungen sein!
Wenn Sie Ihren Psoas auf diese Weise intensiv, lange und oft dehnen, können Sie damit Ihre Hüftgelenks-Strecker in Dauerspannung bringen und dadurch Verspannungen und „unerklärliche“ Schmerzen im Hintern und im unteren Rücken bekommen. Außerdem wundern Sie sich vielleicht, warum Sie nicht mehr mit den Händen auf den Boden kommen, weil es auf der Rückseite der Oberschenkel so zieht.
Dann können Sie natürlich anfangen, auch die Rücken-, Gesäß- und hinteren Oberschenkel-Muskeln intensiv und lange zu dehnen, was Ihnen wieder Dauerkontraktionen in den Hüftbeugern bescheren kann usw… usw.
Außerdem können Sie sich mit längerem Dehnen im Stehen auch Verspannungen im Psoas und den übrigen Hüftbeugern (am Oberschenkel vorn) holen.
Wie das? Wenn Sie sich im Stehen zurückbeugen, würden Sie sofort nach hinten fallen, wenn Sie nicht im Iliopsoas und den übrigen Hüftgelenksbeugern in eine exzentrische Kontraktion gehen. Damit ist folgendes gemeint: eine „normale“ Kontraktion, so wie wir sie im Alltag wahrnehmen, z. B. wenn der Bizeps sich anspannt, ist eine konzentrische Kontraktion. Wenn Sie sich aber in der Schwerkraft nach hinten, zur Seite oder nach vorne beugen, müssen Sie nicht nur diejenigen Muskeln anspannen, mit denen Sie das bewerkstelligen, sondern in gewissem Umfang auch diejenigen Muskeln, die Sie dehnen wollen. Das nennt man eine exzentrische Kontraktion. Nach dem Prinzip funktionieren alle Fehlhaltungen.
Probieren Sie es aus: Legen Sie sich eine Hand auf Ihren Bauch und beugen Sie sich dann im Stehen zurück. Spüren Sie, wie dabei Ihr Bauch fest wird, um Sie gegen die Schwerkraft in dieser Position zu halten. Es wird also nicht nur Ihre Rückseite fest, sondern auch Ihre Vorderseite! Und nicht nur der Bauch, sondern logischerweise auch Ihr Psoas.
Dumm gelaufen!
Trotz aller Anstrengungen werden Ihre Schritte wahrscheinlich immer kleiner, das Gehen wird immer mühsamer und Ihre Schmerzen nehmen zu anstatt ab.
Die exzentrische Verspannung, hier: die Verspannung der Vorderseite, ließe sich vermeiden, wenn Sie Ihren Psoas im Liegen (in Seitlage) dehnen. Aber: Die Verspannung der Rückseite bleibt Ihnen als Möglichkeit nach langem Psoas-Dehnen.
Was außerdem passieren kann
Laut Robin McKenzie kann es bei Überdehnungen zu Einrissen in der Gelenkkapsel und vor allem in den Bändern kommen, die sehr schmerzhaft sein und zu Vernarbungen führen können. Angewandt auf unser Problem hier: die Bänder und Gelenkkapseln der Hüftgelenke können einreißen und vernarben. Diese Vernarbungen bilden ein festes unregelmäßiges, zusammen gezogenes Gewebe, was die Dehnung behindert und leicht reißen kann, wenn man sie trotzdem ausführt.
Dumm gelaufen! Da gibt man sich Mühe und plagt sich ab – und macht am Ende alles noch schlimmer.
Aber es gibt etwas:
Viel besseres als Dehnen: Pandiculations!
In der Pohltherapie® verwenden wir statt Dehnen die von Thomas Hanna entdeckten Pandiculations. Man bewegt sich dabei mit sensomotorischem Feedback des Therapeuten aktiv aus der Dauerkontraktion heraus. Dabei kommt es zum Längerwerden der Muskeln durch gezieltes, bewusstes Nachlassen der Kontraktionen. Das ist ein Verlängern des Muskels mit Gehirn! Der sensomotorische Cortex lernt, seine Muskeln wieder in allen Anspannungs- und Entspannungs-Graden anzusteuern. Die Patient*innen lernen aktive Entspannung.
Im Beispiel: Die Patientin liegt auf dem Rücken, beide Beine aufgestellt und zieht dann das zu behandelnde Bein zu sich (verkürzt den Psoas zunächst mehr als er schon verkürzt war). Die Therapeutin zieht das Bein der Patientin von deren Körper weg. Beide reduzieren den Zug immer wieder langsam, sodass das Bein der Patientin sich im Hüftgelenk allmählich immer mehr streckt, bis es auf der Liege aufliegt (der Psoas wird länger als vor Beginn der Pandiculation). Nach ein paar Wiederholungen erhält ihr Psoas auch im Alltag seine natürliche Länge wieder – und die Patientin kann wieder ganz aufrecht stehen!
Die langfristige Wirkung von gelungenen Pandiculations
Die Pandiculations können zu dauerhafter natürlicher Entspannung und zur Wiederherstellung der natürlichen Beweglichkeit im Alltag führen, was sehr gut ist gegen Schmerzen und funktionelle Beschwerden. Entspannte, schmerzfreie Psoas-Muskeln merken Sie (wie die oben erwähnte Patientin) im Alltag daran, dass Sie beim Gehen das Bein mühelos weit nach hinten bringen und damit ganz selbstverständlich aufrecht große, beschwingte Schritte machen. Das Gehen macht wieder Spaß!
Was Sie gleich tun können:
Eine Selbst-Pandiculation aus der Pohltherapie für den Psoas (bei der man das Gewicht des eigenen Beins statt des Zugs der Therapeuten-Hände nimmt) können Sie sich hier anschauen und nachmachen: https://www.youtube.com/watch?v=mFvq2oQaKIg&t=305s.
Eine Psoas-Bewegung im Stehen können Sie auch gleich mitmachen: Beugen Sie sich in den Hüftgelenken stark nach vorn und dann ganz leicht nach hinten. Machen Sie das etliche Male hintereinander – nur was leicht geht. Wenn Sie das häufig wiederholen, werden Sie merken, dass Sie sich von ganz allein immer weiter leicht nach hinten beugen können – ohne unangenehmes Ziehen vorn. Ihrer Hüftstecker bleiben locker und sie werden wieder aufrecht satt auf beiden Füßen stehen!
Was Sie noch tun können:
Viele Informationen zur Pohltherapie finden Sie unter www.pohltherapie.de dort steht auch eine Vielzahl damit behandelbarer Beschwerden.
Pohltherapeut*innen in Ihrer Nähe finden Sie unter www.pohltherapeuten.de. In gemeinsamer Arbeit mit ihnen werden Sie sich mit Pandiculations und anderen körpertherapeutischen Verfahren dauerhaft von ihren Dauerkontraktionen und deren Folgen befreien können.
Viel Freude beim Üben und Beweglicher werden – ohne Nebenwirkungen!
Literatur zum Dehnen
- Shrier, I.: Does stretching improve performance? A systemic and critical review of the literature. Clin J Sport Med 2004 Sept;14(5): 267 – 73
- Kadlec, Daniel und Matzka, Manuel: Annahmen und Mythen des Dehnens – Beweglichkeitstraining unter der Lupe. MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 25: 9 – 14, 2021
- McKenzie, Robin: Treat Your Own Neck. Spinal Publication, 9. Auflage 2015 deutsch: Behandle Deinen Nacken selbst. Ergonline; 9. Edition 2015
- McKenzie, Robin: Behandle Deinen Rücken selbst. deutsch: Ergonline; 4. Edition 2015
- Riese, Daniel und Kluge, Marcel: Dehnen: Sinn